Sie glaubte immer, dass sie irgendetwas besonderes tun und sein müsste, damit sie ein Recht darauf hat zu existieren. Sie dachte, sie müsste einen großen Dienst leisten, um ein Teil der Gesellschaft sein zu dürfen, um dazuzugehören und ebenso viel Freude am Leben haben zu dürfen, wie die, die sich ihre Größe schon erarbeitet und verdient haben. Dabei war sie so anders, als die anderen und machte sich aus all den Dingen nicht mehr so viel, wir früher. Denn früher war sie auch einmal so, wie die anderen. Und sie gehörte dazu – so richtig. Aber dann passierte etwas, das nicht ganz leicht war für Maria. Sie verlor alles, was ihr lieb war. Ihre Liebe, ihren Besitz und ihre Arbeit. Damit auch ihre Zugehörigkeit, ihren Status, den Ruhm und alles, was ein normales Leben mit Freunden, Bekannten, Strukturen so ausmacht. Alles weg.
Das einzige, was Maria noch lernen musste, war nicht alles für alle anderen zu tun, denn das konnte sie sehr gut. Alles, was man von ihr verlangte erledigte sie mit Bravour. Man könnte ihr die Note 1 in dem Fach Fürsorge erteilen, so sehr erfüllte sie die Wünschen anderer, selbst wenn diese ihre Wünsche nicht einmal ausgesprochen haben. Maria konnte die Dinge erspüren, ohne dass es Worte bedurfte. Man könnte ihr den Titel „gute Fee“ oder auch „Engel“ verleihen, so viel Gutes tat sie für andere. Dafür wollte sie auch nichts zurückhaben, was die meisten Menschen verwunderte und doch irgendwie in einen Zustand der Schuld brachte, wenn sie selbst nie bedingungslos geliebt wurden und dies Art der Liebe nicht kannten. Manch einer könnte sich schnell erdrückt fühlen von so viel Gutmütigkeit, manch anderer konnte diese Besonderheit gar nicht erst erkennen und manche nutzten sie sogar aus.
Aber selbst das merkte Maria nicht, denn ihre grenzenlose Liebe konnte alles erfüllen, dass sogar die mit nicht so guten Absichten darüber erstaunt waren, wie viel Liebe in ihr steckte und davon abließen, ihr weiter zu schaden, ohne dass sie es merkte. Denn auf diese Art und Weise machte es denjenigen, die ihr schaden wollten, keinen Spaß ihr zu schaden – sie merkte es ja nicht einmal. Man könnte diese Liebe naiv nennen. Naiv wie ein kleines Kind berührte sie die Herzen der Menschen und brachte sie zum Staunen und Lachen. Maria fühlte sich gebraucht und wusste, dass sie jeden Tag eine Aufgabe zu erfüllen hat – Menschen Freude bringen, Lachen zaubern und Fröhlichkeit erzeugen. Leicht beschwingt erlebte sie die Tage und Jahre, heiratete sogar und bekam Kinder. Bis zu dem Tag, als er zu ihr sagte: „Ich liebe dich nicht mehr. Ich muss gehen.“
In Maria tat sich ein Loch auf, dass sie bisher nicht kannte. Alles in ihr und um sie herum wurde dunkel. Sie schien zu fallen und zu fallen und zu fallen, ohne jemals wieder Boden unter den Füßen spüren zu können. Kein Mensch schien den Schrei ihrer Kehle hören zu können, denn plötzlich war sie mutterseelenallein ohne zu wissen, weshalb.
Das, was Maria nun lernen musste war, wie sich selbst liebt. Und zwar genauso bedingungs- und grenzenlos, wie sie andere liebte. Das mag für andere Menschen keine große Aufgabe sein. Doch für Maria bedeutete dies alles. Wie sollte das gehen – sich selbst lieben? Um dies herauszufinden, lösten sich plötzlich immer mehr Menschen von ihr, so dass sie ihre Liebe nicht mehr den anderen schenken konnte. Plötzlich wollte keiner ihre Liebe mehr haben. Es war frustrierend. Diese Leeren in ihrem Inneren machte Maria große Angst, denn es war niemand mehr da, um diese Leere zu füllen, außer sie selbst.
Bei jedem Versuch, sich selbst zu lieben, wenn sie zum Beispiel einen Spaziergang machte oder sich in die Sonne legte, um sich zu wärmen, durchfuhren sie nun selbst die Schuldgefühle, die sonst andere ihr gegenüber hatten. Maria fühlte sich nutzlos und schwer. Was sollte sie hier noch, wenn sie doch nichts tun könnte, was irgendeinen Nutzen für andere hatte. Maria blieb nichts anderes, als zu weinen. Denn alles, was ihr wichtig war, war nicht mehr da.
Ab und zu traf sie mal ein paar Menschen aus ihrer Vergangenheit, die ihr Mitgefühl entgegenbrachten, was ihr sehr gut tat. Manchmal bekam sie auch Einladungen für die ein oder andere Fete und lernte sogar neue Menschen kennen, die ganz anders waren, als die, die sie bisher kannte. Da waren Künstler, Selbstständige, Musiker und Tänzer, die ihr die Türen zur kreativen Selbsterfahrung öffneten und dadurch zeigten, wie schön es ist, nur mit sich selbst und der Kunst zu sein. Maria fing an zu malen, zu singen, zu tanzen und merkte, wie sie dadurch diese Leere in sich selbst immer mehr füllen konnte.
Es fiel ihr zunehmend leichter, ihre eigenen Bedürfnisse zu spüren, was früher nicht einmal ansatzweise der Fall war. Und nun wusste die, dass sie diese Bedürfnisse auch sich selbst erfüllen konnte, in dem sie ihnen einfach nachging und dazu niemand anderen mehr brauchte. Ihre Haut wurde immer rosiger, ihre Haare voller und ihre Augen leuchtender. Nun hatte sie gelernt, wie man sich selbst liebt. Denn als es ihr schlecht ging, nahm sie sich selbst in den Arm und tröstete sich mit liebevollen Worten, so wie sie es einst mit anderen tat.
Auch die Menschen im Umfeld erkannten, wie sich Maria plötzlich verändert hatte und wollten wieder ihre Liebe haben. Doch nun war es auf einmal so, dass Maria kaum noch Kraft dafür hatte, ihre Liebe anderen zu geben, weil sie die meiste Zeit für die Erfüllung ihrer eigenen Bedürfnisse aufbrachte. Und trotzdem hatte sie jedes Mal, wenn sie zu Jemandem „Nein“ sagen musste, ein schlechtes Gewissen, obwohl es ihr so gut tat und sie erleichterte, wenn sie sich wieder ein bisschen davon befreite, es anderen recht machen zu müssen oder zu wollen. Maria wuchs aus ihren alten Kleidern heraus und durfte sich nun neue zulegen, die nun ihrer wahren Größe entsprachen.
Manchmal hatte sie Angst, dass sie auf Irrwegen war, weil sie diese neue Form des Lebens nicht kannte und sich ab und zu selbst dafür kritisierte, dass sie so egoistisch sei. Dabei erkannte sie jedoch, dass jedes Mal, wenn sie eine Entscheidung für sich selbst traf, die möglicherweise gegen Jemand anderen ging, trotzdem auch eine Entscheidung für diejenigen traf, die wie sie waren und nun andere den Job übernehmen können, den sie einst für andere tat. Und wieder andere machten den Platz für Maria frei, weil sie gestorben sind oder eben genauso selbstlos geworden sind, wie sie es früher war. Maria verstand, dass es ihre Aufgabe war, durch ihre Selbstliebe andere zu inspirieren, gleiches zu tun, damit diejenigen, die sich selbst nicht lieben gezwungen werden, sich selbst zu lieben, weil es andere eben nicht mehr tun.
Maria erkannte, dass es niemandem etwas nützt, wenn man sich aufopfert und ein schlechtes Gewissen hat, für sich selbst einzustehen. Im Gegenteil. Es verursacht sogar Schaden, weil diejenigen, die sich eigentlich selbst lieben sollten, von anderen geliebt werden und diejenigen sich ebenfalls nicht lieben, weil sie sonst nicht die Kraft dazu hätten jemand anderen so richtig zu lieben, wenn sie sich selbst nicht lieben.
Und nun verstand sie, was es bedeutet so richtig zu lieben. Maria erkannte endlich den Unterschied und weshalb andere oder auch sie manchmal von Schuldgefühlen geplagt waren. Andere zu lieben, obwohl man sich selbst nicht liebt, ist ein Trugschluss von Liebe. Es ist Manipulation. Denn nur dadurch, dass Maria früher andere so sehr liebte, füllte sie ihre eigene Leere mit der Erfüllung der Bedürfnisse anderer und erfüllte damit ihre eigenes Bedürfnis nach Erfüllung, anstatt andere außen vor zu lassen. Denn dadurch machte sie sich irgendwie abhängig von den anderen und andere auch von ihr abhängig, wenn sie anderen alles abnahm. Dabei ist jeder selbst für sich verantwortlich. Wahre Liebe kann nur frei sein und frei ist sie nur, wenn beide Liebenden sich selbst so sehr lieben, dass sie bereit sind, dem anderen zu geben, ohne dadurch eigene Bedürfnisse zu erfüllen.
Maria wusste, dass sie nun der Wahrheit sehr nahe gekommen war und dass sie schon so viel Liebe für sich selbst entwickelt hat, dass ihr nur noch Jemand begegnen könnte, dem es genauso ging. Obwohl sie niemanden brauchte, weil es ihr ja nun einmal auch allein sehr gut ging, wusste sie auch, was sie zu geben hatte. Aber was noch viel wichtiger war, dass Maria gemerkt hat, wie sehr sie nun auch von anderen geliebt wurde, ohne dass sie etwas dafür tun musste. Sie musste niemanden mehr lieben, als sich selbst. Und plötzlich wurde sie selbst mehr geliebt denn je.
Dadurch wurde ihr klar, dass sie früher nicht einmal in der Lage war, die Liebe der anderen anzunehmen bzw. zu empfangen, weil sie sich selbst nicht für wertvoll hielt. Im Gegenteil. Sie war nur am Geben und nun empfing sie mehr und mehr und musste weder etwas großartiges tun, noch besonders sein. Sie war einfach sie selbst, ohne Maske, ohne Anstrengung, ohne Worte. Das Mitgefühl für sich selbst und andere lehrten sie, einfach nur da zu sein, still zuzuhören und zu erkennen, dass manchmal weniger mehr ist und dass Empfangen genauso wertvoll ist, wie Geben