Ich liege regungslos auf einem Bett, meine Augen sind geschlossen, aber ich sehe trotzdem alles, was sich außerhalb meines Körpers abspielt. Ich kann mich nicht bewegen, würde es aber gern. Draußen ist es noch kühl, weil es gerade Mal Anfang März ist. Die Sonne scheint gerade unterzugehen, weil es schon Nachmittag ist und die Sonne sich eben in dieser Jahreszeit recht früh verabschiedet. So wie ich anscheinend gerade.
Es ist ein gemütlicher, würdevoller Raum, in dem ich hier den Dingen ins Auge blicken muss. Mein Leben lang konnte ich nicht gut loslassen, obwohl ich es hätte tun sollen. Und nun bin ich der Endgültigkeit des Lebens ausgeliefert. Mein Körper ist bereits erkaltet. Alle paar Sekunden atmen meine Lungen noch den restlichen Sauerstoff, den sie bekommen können. Aber viel ist da nicht mehr. An meiner linken Bettseite sitzt meine Tochter – meine geliebte Tochter Sarah.
Man sagt immer, die Kinder, die am meisten Kraft kosten, liegen einem auch am meisten am Herzen. Sie sieht gar nicht gut aus. Ich mache mir nach wie vor Sorgen um sie. Ihre Naivität lässt sie immer wieder in Fallen laufen und ihr emotionales Ungleichgewicht macht sie so ambivalent und zerstörerisch – für sich selbst und manchmal auch andere. Im Gegenteil zu mir kann sie prima loslassen. Eben das macht mir Sorge. Sie soll doch lernen, festzuhalten. Jetzt will sie ihren sicheren Beamtenposten aufgeben.
Aber ich bin zu schwach, um ihr weiter zur Seite zu stehen. Sie weint und hält meine Hand, legt ihren Kopf an meinen Arm und weiß, dass ich gleich weg bin. Nun muss sie selbst zur Weisheit finden und ich hoffe, dass ich ihr als Vorbild dienen konnte, auch wenn ich selbst nicht den Weg ging, den sie für mich im Sinn hatte. Ich habe meine Themen auf andere Weise erfahren und vollende nun endlich mit der Begegnung meiner letzten und größten Angst – dem endgültigen Loslassen. Wenn ich mich nicht so sehr dagegen wehren würde, wie es mir Sarah vorgestern noch empfahl, ist es eigentlich gar nicht so schlimm.
So, wie ich in Wellen meine Kinder zur Welt brachte, so zwingen die Wellen mich zur letzten Ruhe. Rechts neben mir sitzt mein Mann, wie ein Häufchen Elend. Er weint auch. Aber nun ist es zu spät für Wiedergutmachung. Du hattest deine Chancen. Aber du ranntest ja lieber weg vor deinen Gefühlen, anstatt mir zu geben, was mir zustand. Liebe, Loyalität, Lebendigkeit. Anstatt mich aus den Fesseln zu befreien und selbst für mein Glück zu sorgen, bürdete ich es dir auf. Das weiß ich. Aber vielleicht musste ich es genauso tun, um unserem Kind der Liebe zu zeigen, wie es nicht geht. Von meiner Fürsorge für sie und den damit verbundenen Opfern meiner eigenen Entwicklung wird sie zehren ohne sich schuldig fühlen zu müssen, weil sie weiß, dass unsere Verbindung und Liebe füreinander bedingungslos war, ist und immer bleiben wird.
Vielleicht habe ich zu viel getan. Vielleicht hätte ich sie mehr sich selbst überlassen müssen. Ich weiß nicht, was richtig gewesen wäre. Aber mein Ziel war es Fürsorge zu leben und dies konnte ich anscheinend am besten in meiner Familie, um meinen überpersönlichen Dienst zu leisten, den ich mir vorgenommen hatte. Freiwilligendienst in Afrika wäre sicher auch nicht verkehrt gewesen, aber so habe ich meinen Beitrag für die Heilung meiner engsten, geliebten Seele Sarah gegeben und hoffe, dass sie das Beste daraus macht.
Allein die Geburt ihres Sohnes und meines Enkeljungens dürfte ein Zeichen dafür sein, dass sie die richtigen Entscheidungen bereits getroffen hat. Nun darfst du auch frei von meiner Last und Bürde werden, liebste Tochter. Ich spüre, wie es wärmer wird in mir. Gleich ist es soweit. Einen Atemzug brauche ich noch. Ein letztes Stück Leben hinein- und wieder herauslassen. Mein Körper bäumt sich und nun wird es still. Dunkelheit. Stille. Vakuum. Nichts.
FORTSETZUNG FOLGT…
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